Ein Tag im Leben von … Tarkan

Master Tarkan

Tarkan bei der Arbeit

 

Köyceğis, Türkei, April 2012

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Ich sitze im Büro des Fahrradladens am PC, schließe ein paar Fotos, die wir angesehen haben und tippe „Wie viel kostet dieser Mantel?“ in den Google Übersetzer. Dann lese ich die Übersetzung vor. Tarkan kichert, meine türkische Ausspreche ist nicht besonders gut. Aber er versteht und antwortet seinem deutschen Kunden in gebrochenem Englisch. Nein, ich arbeite nicht in diesem Fahrradladen, ich bin nur eine der vielen Kunden und verbringe einen ganzen Tag dort.

His beautiful family.

Die Familie am Frühstückstisch

Um acht Uhr frühstückt die Familie mit ihren Gästen. Die Familie, das sind der 42-jährige Tarkan, seine Frau Zehra, die 17-jährige Tochter und Tarkans Mutter. Die Gäste, das sind Roberto und ich. Am Vortag haben wir Tarkan in seinem Fahrradladen getroffen und er hat uns angeboten, in seinem leeren Gästehaus zu übernachten.

Das Frühstück sieht köstlich aus. Es gibt gekochte Eier, zwei verschiedene Käse und Oliven, Tomaten, Joghurt, Honig, Marmelade, verschiedene Arten von Brot, Tee und frisch gepressten Blutorangensaft. Zehra pflückt ihre Oliven selbst, legt sie ein, presst sogar ihr eigenes Öl. Sie macht ihren Joghurt selbst, bekommt frischen Honig vom Nachbarn und kocht ihre eigene Marmelade. Es schmeckt genauso gut wie es klingt.

Um neun Uhr macht Zehra sich auf den Weg zu ihrem Step Kurs und wir fahren zu Tarkans Fahrradladen. Ahmet, sein Schwager und Kollege wartet schon auf uns. Der Laden liegt in einem Kreisel genau am Ortseingang von Köyceğis und jeder kennt ihn. Für die Einwohner ist er mehr als nur ein Fahrradladen. Es ist der Ort, wo sie sich auf einen Tee treffen, sich mit anderen Radlern oder Nicht-Radlern unterhalten – eine Verlängerung zu den beiden Cafés nebenan, nur mit mehr zu sehen und tun.

Ahmet und Tarkan schütteln ungläubig die Köpfe, als wir ihnen unsere Räder zeigen. Zum Glück haben wir das Problem schon am Vortag entdeckt und. Weit geschafft hätten wir es so nicht.

Tarkan und Ahmet zentrieren die Felge neu

Tarkan und Ahmet zentrieren die Felge neu

Nur ein paar Tage zuvor haben wir unsere Räder in Alis Fahrradladen gelassen, der uns ein neues Ritzelpaket einbauen sollte. Dafür musste er alle Speichen neu einsetzen. Hier hat er einen kleinen aber bedeutenden Fehler gemacht und die Speichen falschherum gekreuzt. Sie haben einander nicht berührt, konnten sich nicht stützen. Mit unserem Gepäck sind uns die Speichen schnell durchgebogen und wären wohl auch bald gebrochen. Ahmet und Tarkan schnappen sich je einen Reifen und legen los. Tarkan erklärt genau, was er tut und ich schreibe mit – für das nächste Mal. Die Arbeit dauert lange und das hat drei Gründe. Erstens: Die beiden machen ihre Arbeit sehr exakt.

Am Ende laufen die Räder perfekt rund. Zweitens: Tarkan schlägt uns vor, auch neue Kettenblätter einzusetzen, denn die alte Kette und die billigen Kettenblätter könnten dem neuen Ritzelpaket schaden. Dazu muss er bei Robertos Rad lange nach einem passenden Innenlager suchen und am Ende eine „Operation“ durchführen und zwei Millimeter des Rades abnehmen. Drittens: Es gibt jede Menge anderer Kunden. Manche kaufen etwas, andere lassen etwas reparieren, andere kommen nur auf einen Tee und ein Gespräch und wieder andere sind gelangweilt und haben sich spontan zu den anderen Gästen auf den Plastikstühlen auf dem Fußweg gesetzt.

Während alle beschäftigt sind, sehe ich mich ein wenig um. Der hintere Raum ist die Werkstatt: Chaos. Schraubendreher, Babypuder, Schläuche, Mäntel, Gepäckträger und verschiedene Werkzeuge sind in die Regale gequetscht und auf dem Tisch verteilt. Die Nägel an der Wand, an denen die Werkzeuge aufgehängt werden können, sind leer. Hier und dort entdecke ich Teile von meinem eigenen Reifen. Als Tarkan ihn auseinandergenommen hat, ist er vom Teetisch auf dem Fußweg zur Werkstatt gelaufen und hat die einzelnen Teile überall auf dem Weg verteilt. Ich versuche verzweifelt, ein System auszumachen, doch scheitere kläglich. Tarkan und Ahmet hingegen wissen genau, wo sie nach was zu suchen haben.

Was passiert wohl mit all den Rädern über Nacht?

Was passiert wohl mit all den Rädern über Nacht?

Ich kann die beiden gut verstehen und wer jemals die vielen Schichten Zeug auf dem Fußboden meines Kinderzimmers gesehen hat, versteht, warum. Tarkan kennt seine Werkstatt und als er mein Rad wieder zusammenschraubt, läuft er in entgegengesetzter Richtung, von der Werkstatt bis zum Teetisch, und sammelt die Teile auf dem Weg ein, ohne auch nur hinzusehen.

Ich gehe wieder nach außen. Ein paar verirrte Hühner laufen zwischen den Fahrradwracks hindurch, ein Schaf blökt irgendwo. Tarkan und Ahmet finden endlich Zeit, um sich selbst einen Tee zu gönnen. Kaum haben sie die winzigen Gläser geleert, kommt auch schon ein Kind das nach Kettenöl fragt und Tarkans Handy klingelt wieder. Es gibt nicht viele Pausen, zu viel Arbeit. Nur zum Beten nimmt Tarkan sich die Zeit.

Wir verbringen den ganzen Tag im Laden, beobachten die fleißige Arbeit, sehen Tourenfotos von anderen Kunden am PC des Büros an, helfen mit Übersetzungen der ausländischen Kunden und trinken viel Tee. Tarkan stellt uns viele andere Kunden vor und die Zeit vergeht im Flug.

Kinder, Eltern, Reisende, Freunde und ein Mechankiker machen sich auf den Weg das Umland zu erkunden.

Kinder, Eltern, Reisende, Freunde und ein Mechankiker machen sich auf den Weg das Umland zu erkunden.

Am späten Nachmittag liefert Tarkan ein Rad in ein anderes Dorf in der Nähe. Er rast durch die Landschaft, dreht Tschaikowsky voll auf und nach kurzer Zeit sind wir da. Damit es in den Kofferraum passt, hat Tarkan das Vorderrad abgeschraubt. Vor Ort setzt er es wieder ein, prüft die Luft, die Bremsen, die Speichen. Der Kunde ist zufrieden und gibt ihm gleich ein weiteres kaputtes Rad mit. Tarkan macht für uns einen kleinen Umweg, um die Felsengräber von Dalyan zu besichtigen. Wir machen ein paar Fotos und fahren wieder zurück zum Laden.

Als wir ankommen ist es schon 21 Uhr, Ahmet arbeitet immer noch. Er hat es sogar geschafft, meinen Tacho zu reparieren, den seit Serbien niemand mehr in Gang bringen konnte. Unser komplettes Gepäck liegt noch immer unberührt auf dem Fußweg vor dem Laden, die Räder stehen daneben. Wir trinken einen letzten Tee mit dem Besitzer des Cafés nebenan. Ein Spaziergänger setzt sich dazu. Wir bieten an, dabei zu helfen, die Ausstellungsräder für die Nacht in den zurück in den Laden zu bringen, aber Ahmet lacht nur. Bis heute wissen wir nicht, wie die vielen Räder in den kleinen Laden passen sollen oder ob hier einfach niemand stiehlt. Tarkan schickt uns zurück zu seiner Familie, die schon hungrig auf uns wartet. Als Tarkan selbst nach 22 Uhr nach Hause kommt, haben wir schon mit dem Abendessen angefangen. Roberto und Zehra tauschen türkische und mexikanische Rezepte aus und irgendwie verstehen wir einander auch ohne fließend die Sprache des anderen zu sprechen.

Nach dem Essen trinken wir noch einen Tee und Tarkan schläft auf dem Sofa ein. Es war ein langer, harter Tag und morgen muss er wieder früh raus. Um neun Uhr soll die wöchentliche Kinderfahrradtour beginnen, deren Organisator er ist. Bevor wir schlafen gehen, verschwindet Tarkans Mutter für einen Moment und kommt mit einer Hand voll Orangen für uns wieder. „Sie sammelt die in ihrem Zimmer“, lacht Zehra, „sie nutzt es als ihr Lager, alle Schubladen sind voller Orangen.“.

He works very hard.

He works very hard.

Am nächsten Morgen fahren wir die ersten Kilometer mit den Kindern mit, dann biegen wir ab und folgen unserem eigenen Weg. Zuvor müssen wir Tarkan und Zehra aber noch versprechen, wieder vorbeizukommen wenn wir in der Nähe sind. Bei unserer ersten langen Pause verspeisen wir ein paar saftige Orangen.

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